Stellen Sie sich eine Welt vor in der es kein Fernsehen gibt und niemand Bilder malt. In dieser Welt gibt es keine Musik, keine Bücher, keine Regeln, kein Theater, keine Fotos, kein Parfüm, keine lustigen Getränke wie z. B. „Hugo“. Niemand tanzt, baut Häuser oder konstruiert Autos, erfindet Einwegwindeln, Rutschbahnen und Dosenöffner. Würden Sie gerne in dieser Welt leben?
Die Grundlage unserer individuellen, sozialen, kulturellen und technischen Entwicklungen und Errungenschaften ist – man glaubt es kaum – Spielen. Alles was wir sind und haben, verdanken wir unserer Entwicklung und die beste Entwicklungsförderung ist Spielen und zwar in allen Varianten. Im Tierversuch (es waren mal wieder Ratten) konnte sogar nachgewiesen werden, dass die Unterdrückung des Spielens zum Tod führt! (Für Interessierte: Man hat jede Menge Ratten eingeschüchtert und die Ratten, die nie spielen durften sind jämmerlich verhungert, weil sie sich nicht mehr aus ihrem Versteck gewagt haben; während die Spielratten experimentierfreudiger waren und den Mut aufbrachten aus dem Versteck hinaus, hin zum Futter zu trippeln und zu fressen.)
Auch wenn es ein paar klitzekleine Unterschiede zwischen Ratten und Menschen gibt, kann man aus solchen Versuchen u. a. schlussfolgern, dass Spielen während der Kindheit durch nichts zu ersetzen und für die gesunde Entwicklung auch bei Menschenkindern extrem wichtig ist! Und genau da haben wir ein Problem, denn uns alle bedroht nicht nur der Klimawandel, sondern auch die Entspielung der Kindheit. Die Zeit der Kinder ist zunehmend verplant und durchorganisiert, es gibt immer weniger Kinder, die einfach nur so mit anderen Kindern spielen – ohne Erwachsene und ohne Förderhintergedanke!
Gründe für diese Fehlentwicklung sind in meinen Augen: falsch verstandene Bildungspläne, zu wenig Wissen über Gehirnentwicklung und Bindungstheorie, Kinderarmut und nicht zuletzt die Angst vieler Eltern vor dem Bildungspanikdrachen.
Besonders wenig Zeit für Freispiel wird Kindern in Krippen, Kitas und Grundschulen zugestanden, denn schon die Jüngsten werden „eingetaktet“ und das freie Spiel wird viel zu oft ersetzt durch angeleitete Bildungsangebote. Freies Spiel ist oft nur als kurzer Pausenfüller zu finden und auch da ist das Spiel nur selten wirklich frei! Meine Beobachtung ist, dass auch zuhause in den Kinderzimmern sogenannte „Lernspiele“ dominieren und das „einfach so Spielen“ keine Zeit bekommt – insgeheim glaube ich, das Lieblingsessen des Bildungspanikdrachens ist Freispielzeit.
Wenn man aber weiß, dass freies Spiel zeitintensiv ist und vor allem unersetzlich, sollten wir uns mit dem Umdenken etwas beeilen, denn wir brauchen sowohl die Ozonschicht um zu überleben als auch Kinder, die frei spielen können und vor allem dürfen.
Wie wichtig ist Spielen?
Vielleicht überrascht es Sie, aber Kinder spielen nicht um etwas zu lernen, sie spielen nicht um sich zu erholen, zu entspannen und sie spielen nicht einmal um etwas zu üben. Das Spiel, und da sind sich Psychologen, Pädagogen und Philosophen ziemlich einig, hat einen viel tieferen Sinn. Spiel hat die Aufgabe das Leben zu bewältigen und zwar in einer Zeit – der Kindheit – in der andere Möglichkeiten und Techniken noch nicht vorhanden bzw. ausgebildet sind. Was passiert, wenn Kinder nicht ausreichend spielen, können Sie sich jetzt sicher vorstellen.
Spielen ist für Kinder die wichtigste Tätigkeit überhaupt, sie ist das Lebenselixier der Kindheit, sie ist der Zaubertrank für gelingende seelische und körperliche Entwicklung.
Wenn Kinder sich frei entscheiden können mit was, mit wem, wo und wie lange sie spielen, dann erhöht das die viel gepriesene „Selbstwirksamkeit“ und diese wiederum ist die Voraussetzung für ein gelingendes Leben mit viel Wohlbefinden. Zudem haben Kinder, die viel und mit anderen Kindern spielen nachweislich bessere soziale Beziehungen, sie können sich besser regulieren und haben mehr Freunde (laut Glücksforschung das Wichtigste überhaupt!). Wer mehr Freunde hat fühlt sich sicherer, und spielt deshalb freier, ist demnach klüger, kommt mit sich selbst besser klar, ist teamfähiger usw. Wer Freunde hat, hat Freude und Freude ist gut für die Seele usw. Sie sehen – es ist ein Engelskreis und ich bin mir ganz sicher – mehr zweckfreie Spielzeit würde so manchem Kind weniger Therapiezeit bringen.
Stuart Brown, einer der wichtigsten Köpfe der internationalen Spielforschung ist der Ansicht, dass nichts das Gehirn so sehr erhellt wie das Spielen. Wenn Kinder in ihrer Kindheit mehr und vor allem mehr frei spielen dürfen, werden sie zu aktiveren, erfolgreicheren und glücklicheren Erwachsenen, denn sie haben durch Spielen, Raufen, Schreien, Herumtoben etc. gelernt sich emotional zu regulieren, eigene Ideen zu verfolgen, mit anderen zurechtzukommen, Regeln einzuhalten und das ist der Garant für Konzentration, Selbststeuerung und gelingendes Lernen. Ich bin der Ansicht, man sollte das zweckfreie Spielen nicht dem Lernen und zielgerichtete Lernförderspiele nicht dem Spielen opfern!
Ich hoffe, es ist mir es mir gelungen die Bedeutung und die Wichtigkeit des freien Spiels darzustellen und dem adipösen Bildungspanikdrachen ein wenig das Futter zu reduzieren, denn das Spielen hat, so Stuart Brown, „seine eigene Rechtfertigung wie das Schlafen und das Träumen“. Spielen ist die Basis für alles und ungeheuer wichtig für die gesamte Entwicklung und das Lernen. Spielen erhält und macht Kinder gesund, weil Bewältigungserfahrungen nachweislich auch den Körper stärken. Durch wohltuende Ereignisse, wie sie sich Kinder im Spiel erschaffen, bauen sie Stärken auf und korrigieren gleichzeitig Defizite und all das können sie wunderbar auch dann brauchen, wenn die wenigen Jahre der Kindheit vorbei sind und die Spiele der Älteren beginnen.
Lernen ohne Spielen ist möglich – Spielen ohne Lernen garantiert nicht!
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